It's me

Wenn die eigene Mutter stirbt

Überraschend kam es nicht. Aber trotzdem völlig unerwartet. Wenige Tage nach ihrem 62sten Geburtstag. Ich war 41. Meine Kinder 5.5 und 7 Jahre alt. In all den schwierigen Jahren davor ging es immer irgendwie weiter. Auch den schon vereinbarten Sterbetermin mit Exit, 8 Jahre zuvor, konnten wir glücklicherweise umschiffen. Aus meiner Sicht glücklicherweise. Das Leid war damals schon gross. Ich war im dritten Monat schwanger. Mit ihrem ersten Enkelkind. Das habe ich ihr nicht erzählt. Ich wollte nicht SO Einfluss auf diesen Entscheid nehmen. Es hat mich aber fast zerrissen. Sie litt Höllenqualen. Schon damals. Ich wollte nicht, dass sie ging. Ja, ich war ganz egoistisch! Nicht gerade jetzt. Nicht auf diese Art. So trug ich und letztendlich ein in letzter Minute gestellter medizinischer Befund dazu bei, dass es anders kam. Der Ausstieg vom Ausstieg. Sie wollte es auch. Sagen alle. Und ich glaube es. Ganz fest sogar.

Wie alles begann

Sie war eine leidenschaftliche Töff Fahrerin. Alles was sie interessierte, tat sie mit Leidenschaft. Auch Skifahren, Jassen, Badminton spielen, ihren Kindershop betreiben und ein grosses soziales Umfeld pflegen. Bis zum Unfall. Vor allem auch lebte sie leidenschaftlich gerne. So lange, bis ein stockbesoffener Autofahrer, auf der Suche nach seiner heruntergefallenen Kassette, in einer leichten Rechtskurve auf die Gegenspur geriet und dabei meine entgegenkommende Mutter mit voller Wucht seitlich rammte. Sie auf dem Motorrad. Das Bein, welches sie dabei verlor hat sie dann versucht im Gras zu finden. Bis Hilfe kam. Und kurz darauf die Rega. Ein Arm musste dann einige Tage später auch amputiert werden. Er wäre nicht zu retten gewesen und begann den Körper mit einer Infektion zu vergiften. Sie wäre daran gestorben. Mit 39 Jahren. Ich 18, mein Bruder 15. Das Koma dauerte mehrere Wochen an. Wie lange genau weiss ich nicht mehr. Wann, ob und wie sie aufwachen würde, wussten wir nicht. Die Bedrohung einer weiteren Infektion war allgegenwärtig. Die Wahrscheinlichkeit einer beim Aufprall erworbenen Hirnschädigung und damit geistigen Behinderung, war nicht auszuschliessen. Sie sterben lassen? Nein. Zu diesem Zeitpunkt war das keine Option. Immer wieder, jedem der es hören wollte und letztmals wenige Woche vor dem Unfall hat sie erzählt, sie wolle gerne 100 Jahre alt werden. Und das auch dann, wenn sie nichts mehr könne ausser einem spannenden Buch lesen.

Die nächsten 22 Jahre

Ein knappes Jahr später. Ihr erster Besuch Zuhause. Der 40ste Geburtstag. Ständiger Begleiter: starke Phantomschmerzen, Nebenwirkungen von Medikamenten sowie stationäre und ambulante Therapien. Einige Jahre später. Die Scheidung und die eigene Wohnung. Autonomie war ihr wichtig. Sehr wichtig. Noch etwas später. Exit war abgewendet, dann kamen die Enkelkinder. Der Kampf gegen die Phantomschmerzen ging immer weiter und konnte bis zum Schluss nie gewonnen werden. Einziges Freudeli: die Zigis. Damit hat sie nach über 10 Jahren Enthaltsamkeit vor ihrem Unfall nach der Rehabilitation wieder angefangen. Ein paar waren das schon pro Tag. Und dann waren da natürlich die Besuche der Kinder und Enkelkinder. Und die Ferien am Meer. Und die neu gewonnene Leidenschaft für den Garten. Ja, es ist einiges zusammengekommen, wofür es sich doch noch zu leben lohnte! Trotz neuer, zusätzlicher Qual. Dem Dekubitus.

Das letzte Jahr. Die sich immer schneller drehende Abwärtsspirale.

Das Sterben wollen, das Müde sein vom schmerzerfüllten Leben begleitete uns nun schon über Jahre. Bis auf die Physio- und Schmerztherapie verweigerte sie praktisch jede medizinische und auch sonstige Hilfe. Nach aussen wirkte sie weiterhin lebensfroh. Mit dem Schicksal gehadert hat sie sowieso praktisch nie. Dafür war sie nicht der Typ Mensch.

In ihrem letzten Sommer erlitt sie eine Darmperforation. Sie war zu diesem Zeitpunkt alleine. Der Zufall wollte es, dass rechtzeitig Hilfe kam. Als die Sanitäter eintrafen war sie ansprechbar und willigte kurze Zeit später von sich aus zur Operation ein. Ihr Zustand war aber schlecht. Sehr schlecht. Es folgten mehrere operative Eingriffe. Vor dem zweiten sagte ich ihr, dass sie gehen dürfe. Ich würde das verstehen und wir alle kämen zurecht. Sie lag während meiner Worte im künstlichen Koma. Wie auch noch Tage danach und wollte dann später nicht aus dem sogenannten Delir aufwachen. Irgendwann dann doch. Kurz darauf war sie recht munter. Mit dem Hammer totschlagen, müsse man sie wohl eines Tages, meinte sie. Die erneute Rehabilitation mit künstlichem Darmausgang begann. Mit allen Hochs und Tiefs. Kurz vor den Herbstferien entschloss sie sich dazu, diese mit uns, wie ursprünglich geplant, anzutreten. In die Südtürkei, ans Meer. Wir alle freuten uns. Es sollten unsere letzten gemeinsamen Ferien werden. Das letzte Bad im Meer.

Noch während den Ferien entdeckte ich eine nässende schwarz verfärbte Wunde bei ihr. Sie hat abgewunken. Das habe sie schon lange. Ein Dekubitus. Eine offene, tiefe Wunde, entstanden durch eine Druckstelle beim Sitzen im Rollstuhl. So tief, dass die Nerven bereits abgestorben und die Schmerzen deshalb erträglich waren

Zuhause, bei der nächsten Spitalkontrolle wurde sie gleich dortbehalten. Wegen des fortgeschrittenen Stadions des besagten Dekubitus. Es folgten weitere Spitalmonate. Für sie als Raucherin nicht immer einfach. Viele Operationen. Nach jeder war es noch schlimmer. Über die Weihnachtstage war sie bei uns. Irgendwie die bisher schlimmsten Weihnachten meines Lebens. Und auch die Schönsten. Es waren doch die letzten mit meiner Mutter. Aber niemand will jemand anderen so leiden sehen. Und schon gar nicht das eigene Mami. Wir haben manchmal zusammen geweint. Auch gelacht. Und viel geredet. Was ich ihr im Koma schon ein halbes Jahr zuvor sagte, wiederholte ich im Gespräch mit ihr. Wenn sie gehen wolle, dann würde ich das verstehen. Und ich würde ihr diesmal nicht im Wege stehen.

Die letzte Woche

Das Verhältnis zu meiner Mutter war bis auf wenige, normale Mutter/Tochter Dispute immer gut gewesen. Wir telefonierten oft. Sie interessierte sich immer für all meine Sörgeli. Trotz all der Schwere, die ihr eigenes Leben belastete. Es Mami halt. Noch näher stand ihr mein Bruder. Er wohnte in ihrer Nähe und schaute fast täglich vorbei. Er war es dann auch, der mich an jenem Dienstagmorgen während der Arbeit informierte, dass sie bei Exit angerufen habe. Sie wolle sofort, wenn möglich noch heute einen Termin. Nachdem ich die Kinder aus der Ferienbetreuung abgeholt und bei einer Freundin hatte unterbringen können, raste ich zu ihr. Angst kroch in mir hoch. Unterwegs führte ich mir vor Augen wie oft es gut gegangen ist. Wie oft wir schon am ähnlichen Punkt standen. Wie zäh letztendlich meine Mutter doch immer war. Das ging so weit, dass ich fast schon eine leise Wut verspürte. Warum tat sie das schon wieder mit uns. Ich war plötzlich der Überzeugungen, dass es auch diesmal gut ausgehen würde. Dafür sprach auch der in einigen Tagen festgelegte Eintrittstermin in eine Paraplegiker Klinik. Eine neue, entfernte Freundin unserer Mutter hat das arrangiert. Persönlich habe ich das als krasse Einmischung wahrgenommen. Genau. Die Freundin hat es gut gemeint. So wie ich auch, damals vor 8 Jahren. Ein renommierter Dekubitus Spezialist wollte sich diesem schweren Fall annehmen. Ein Aufenthalt über etwa 4 Monate war geplant gewesen. Er war zuversichtlich. Sie war zwiegespalten. Trotzdem hatte sie sich dafür entschieden. Ein Lebensfunke war immer noch da. Und auch deshalb hat sie eingewilligt, weil man ihr zugesichert hatte, dass sie ihre 2-3 Zigarettlis pro Tag rauchen könne. Diese Aussage wiederrief man dann. Am Montag. Telefonisch. Der Lebensmut verliess sie dann vollends. Sie konnte am Abend nicht mehr richtig Schlucken. Die Schmerzen trafen sie daher wegen der nachlassenden Wirkung der Schmerzmittel hart. Am Dienstag wollte sie dann nicht mehr. Mein Bruder und ich verbrachten den Tag mit ihr. Der Arzt kam zweimal vorbei und spritzte Morphium und Methadon. In ihren wachen Momenten sprachen, lachten, schwiegen und weinten wir miteinander. Aus Exit wurde nichts. Das geht nicht so schnell. So veranlasste der Arzt am Abend die Verlegung auf die Notfallstation und danach in das Palliativhaus. Der Transport war qualvoll. Meine Mutter hat noch nie so geschrien. Überhaupt hörte ich niemals Jemanden so schreien. Stark sediert und vollgepumpt mit Schmerzmitteln liessen wir unsere Mutter für die Nacht auf der Palliativstation zurück. Am nächsten Morgen war sie wach. Knapp. Und nur für 10 Minuten. Wir konnten uns innigst voneinander verabschieden. Ich wusste es da noch nicht, aber es sollte für immer sein. Sie wachte danach nicht mehr auf.

Ich verbrachte während den kommenden Tagen viel Zeit an ihrem Bett. Dabei war ich manchmal hellwach, manchmal wie in Trance. Sie selbst, so sah es aus, kämpfte Anfangs dagegen an. Gegen das Loslassen. Gegen ihren eigenen Wunsch, ihr unsägliches Leid beenden zu können. Später wurde ihr tiefer Schlaf ruhiger und es sah aus als würde sie friedlich schlafen. Am Freitag erwähnte unsere 7-jährige Tochter, sie wolle s’Grossmami auch nochmals sehen. Erst wusste ich nicht recht wie damit umgehen. Google lieferte dann die notwendigen Entscheidungshilfen. Diese und mein Bauchgefühl sprachen nicht dagegen. Und so entschieden mein Mann und ich, nach ausführlichem Gespräch mit unserer Tochter, sie dürfe das, wenn sie das fest wolle. Am Samstag dort angekommen hat sie sich umentschieden. Ich war froh. Dass sie selbst hat entscheiden dürfen und dass sie nicht mehr wollte. Wenige Stunden später verstarb meine Mutter. Ich war bei ihr. Erst ein paar Minuten danach hat es mir den Boden unter den Füssen weggezogen und ich wusste plötzlich nicht mehr wie man atmet. Danach war es vorbei. Ich funktionierte wieder. Schmerz und Leere hielten sich noch eine Weile, also damit meine ich einige Wochen, die Waage.

Und heute?

Das ist jetzt ein dreiviertel Jahr her. Wir haben einen Teil der Asche in unserem Garten vergraben. Unauffällig an einem sonnigen Plätzchen. Unter einem Rosenstrauch, der Lieblingspflanze meiner Mutter. Meine süsse, sensible und herzensgute Tochter, hat die Hoffnung geäussert, dass es der Kopf ist. Damit sie mit ihr sprechen könne. Das tut sie jetzt manchmal auch. Wenn ihre Freundinnen nicht zuhören und sonst tue sie es nur in Gedanken, damit sie niemand auslache. Ich spreche auch mit ihr. Obwohl ich nicht religiös bin. Für unsere Familie stimmt es so. Oft stelle ich mir vor was sie mir in dieser oder jener Situation raten würde. Verarbeiten tu ich natürlich immer noch. Etwa mit Texten wie diesem. Manchmal vergesse ich, wie Ihre Stimme klang. Dann erfasst mich kurz ein Gefühl von Panik. Und vermissen werde ich sie noch lange, wahrscheinlich solange ich lebe. Der eigene Schmerz wird seltener. Auch der Reflex, nach dem Telefon zu greifen und sie anrufen zu wollen. Ich bereue es, in den letzten Jahren nicht mehr Fotos und wenigstens ein paar Videos gemacht zu haben. Immer hatte ich das Gefühl, Solche könne man ja dann in besseren Zeiten auch noch machen. Und wenn die Zeiten tatsächlich für ein paar Momente mal besser waren, rückte der Moment an sich in den Vordergrund. Sie konnte nie so eine Grossmutter sein, wie sie es gerne gewesen wäre. Aus der Sicht ihrer Enkel war sie eine ganz normale Grossmutter. Eine die gerne Papa Moll Geschichten erzählt hat. Und zur Freude unseres Sohnes immer für einen Jass zu haben war. Sie ging einfach zu früh. Für mich viel zu früh.